Mündlichkeit und Schriftlichkeit


Abstract: Gemeinhin trennt man Mündlichkeit und Schriftlichkeit nach den ‚Medialitäten‘,
nämlich einmal nach der Verlautbarung und zum anderen nach der Graphematisierung.
Die Sprachwissenschaft spricht deshalb von gesprochener und geschriebener
Sprache. Aber die gesprochene Sprache bezieht sich auf den schriftinduzierten
Laut, der aus dem Lautkontinuum heraussegmentiert worden ist. Mündlichkeit
steht deshalb vor aller Lautierung, nämlich im Lautkontinuum, das bedingt,
dass der Mensch in der Sprache ist und das eine Präsenz-Kultur voraussetzt. (Alphabet-)
Schrift hinwiederum bedarf der Lautsegmentierung, um aus den Lauten die
Buchstaben in der Sprache zu bestimmen und zu einer Graphematisierung zu kommen.
Diese Lautsegmentierung hebt die Sprache aus dem Lautkontinuum heraus
und vergegenständlicht sie, Sprache wird zum Objekt. Das gibt uns das Bewusstsein,
dass Sprache uns gegenübersteht und wir über sie als ein Mittel verfügen. Für
die Sprachgeschichtsschreibung ergibt sich daraus eine interessante, bislang nicht
genutzte Perspektive: die Mündlichkeit der Präsenzkultur mit ihrem erweiterten
Personal (Adel bis Poeten), ihr Rückgang und die wachsende Funktionalisierung
der Schriftlichkeit, die dann eben auch vom Adel und den Poeten (Schriftstellern)
ergriffen wird und schließlich, mit der ‚Hochlautung‘, zu einer totalen, alles erfassenden
Schriftlichkeit wird.
1 Mündlichkeit und Schriftlichkeit
2 Gesprochene Sprache
3 Mündlichkeit
4 Schriftlichkeit
5 Sprachgeschichte
6 Literatur
Mündlichkeit und Schriftlichkeit
Mündlichkeit und Schriftlichkeit erscheinen als zwei Formen der Sprache, die einmal
über die lautliche und zum anderen die schriftliche (also mit Zeichen angezeigte)
entgegengesetzt erscheinen. Tatsächlich ist das Verhältnis aber ganz anders entgegengesetzt,
nämlich einmal als Sprache und zum anderen als Kultur. Denn die
gesprochene Sprache basiert auf Lauten, die wiederum segmentiert worden sind,
während die mündliche (Sprach-)Kultur Sprache als Objekt gar nicht reflektiert.
Man schaue einmal, ob Sprache vor 1800 überhaupt ein Objekt der Reflexion ist:
Sprache erhält jedenfalls keinen Eintrag in den Wörterbüchern der früheren Zeit.
Das wird noch ausführlicher zu begründen sein. Zunächst ist jedoch die Gleichheit
( Ulrich Knoop
von gesprochener Sprache und Mündlichkeit zu diskutieren, denn ihre Gleichheit ist
fraglich.
Gesprochene Sprache
Folgt man den gängigen Thesen der Sprachwissenschaft, ist das allerdings nicht so.
Denen zu Folge ist das, was dann gesprochene Sprache genannt wird, das eigentliche
Objekt der Sprachwissenschaft. Demgegenüber erscheint die geschriebene Sprache
als zweitrangig, nachgeordnet oder sekundär, weil sie die eigentliche Sprache,
die gesprochene also, in einem zusätzlichen, dann aber nachgeordneten Zeichensystem
wiedergebe, der Laut hingegen sei die primäre Existenzweise der Sprache.
Schwierig ist hierbei, dass diese gesprochene Sprache auch die schon geschriebene
verlautbaren kann – und die geschriebene Sprache auch so angelegt ist, dass sie
verlautbart werden kann –, so dass diese gesprochene Sprache, wenn nachfolgend,
auch sekundär sein kann. Die geschriebene Sprache erhält dadurch einen eigenartigen
Vorrang – eine Prävalenz –, was so gar nicht zu ihrer Zweitrangigkeit passen
will.
Deutlich wird dieses Dilemma in dem Lösungsversuch von Hermann Paul, der
darauf verweist, dass das Geschriebene nicht die Sprache selbst ist und deshalb die
in Schrift umgesetzte Sprache immer erst einer Rückumsetzung bedarf. Diese Rückumsetzung
ist aber deshalb schwierig, weil die Schrift die Vielfalt der gesprochenen
Sprache schon immer vereinfacht, d. h. zusammengelegt hat, sodass ein Zeichen der
Schrift eine Vielzahl von Verwirklichungsmöglichkeiten in der Artikulation hat
(Paul 1880/1920, 373–375). Es geht in den Überlegungen von Hermann Paul also um
die Lautwiedergabefähigkeit der Schrift und deshalb darum, ob das überhaupt die
Aufgabe der Schrift ist.
Andererseits bewegt die Sprachwissenschaft natürlich die Frage nach ihrem Objekt.
Ihre Kriterien sind dafür Natürlichkeit und Ursprünglichkeit und da die gesprochene
Sprache auch nach Hermann Paul als die primäre Sprachform angesehen werden
muss, entspricht sie auch diesen Kriterien: sie erscheint als das eigentliche Objekt
der Sprachwissenschaft. So für Ferdinand de Saussure – „das gesprochene Wort
allein ist ihr Objekt“ (de Saussure [1916], dt. Übersetzung 1968, 28) –, Leonard Bloomfield
(1935, Dt. Übersetzung 2001, 21) oder Noam Chomsky, der davon ausgeht, dass
der genuine Teilhaber an der (englischen) Sprache ein „speaker“ ist ([1957]/2002,
15).
Natürlich, ursprünglich oder genuin erscheint diesen Sprachwissenschaftlern die
gesprochene Sprache deshalb, weil sie das Primäre an der Sprache, nämlich den
Laut realisiere.
Eigenartigerweise kommt zusammen mit dieser Auffassung, die gesprochene
Sprache sei die ursprüngliche, genuine Sprache, auch die Meinung auf, sie sei dies
Mündlichkeit und Schriftlichkeit (
deshalb, weil sie den ursprünglichen und genuinen Teil der Sprache verwirkliche,
den Laut. Denn die gesprochene Sprache könne mit ihrer Artikulation den Laut in
seiner Vielfalt besser und angemessener wiedergeben als die geschriebene Sprache.
Es ist wieder Hermann Paul, der das am Ende des 19. Jahrhunderts benennt, und
dann zur Grundlage seiner These macht, demnach die gesprochene Sprache das primäre
Objekt der Sprachwissenschaft sei (Paul 1880/1920, 375).
Die Frage ist aber, ob der Laut wirklich das Ursprüngliche und Genuine der Sprache,
vor allem aber des Sprechens ist. Wir sprechen in einem Lautkontinuum, trennen
also gerade nicht Sprache in Laute auf. Tun wir das, so hat das mindestens den
Zweck der verdeutlichenden Aussprache, wenn es nicht pädagogische oder weitergehende
Zwecke sind. Artikulation oder lautierende Aussprache sind also keineswegs
natürlich, ursprünglich oder genuin, sondern besonders, vor allem aber unnatürlich.
Betrachten wir Laute so, dann wird auch schon deutlich, woher sie stammen:
sie sind artikulatorische Verdeutlichungen, zunächst, die aber dann ihre Herkunft
und ihren Zweck deutlich machen. Sie werden herausgestellt, um das Lautkontinuum,
das dem Sprechen ganz natürlich ist, aufzulösen. Aber warum auflösen?
Das Lautkontinuum kann nicht in Zeichen wiedergegeben werden, erstens,
weil solche Zeichen nur schwer wiedererkennbar, also entzifferbar sind (man beachte,
dass es eine Schriftlichkeit gegeben hat (bis ins Spätmittelalter), die mit der
scriptio continua dem offenbar gewussten Lautkontinuum entsprechen wollte), und
zweitens, weil solche Zeichen reartikulierbar sein sollen: sie sollen erkennbar eine
gleichmäßige Artikulation ermöglichen. Das leisten die Buchstaben, die Hermann
Paul dann auch ganz folgerichtig hinsichtlich ihrer Artikulationsanzeige diskutiert
und bewertet – z. B. den harten s-Laut (Paul 1880/1920, 394 ff.). Damit ist klar, dass
der Laut Voraussetzung für die Schrift ist, dass also Schrift u. a. auf der Auflösung
des Lautkontinuums basiert.
Als die Schrift ihren Siegeszug beginnt, stehen am Anfang ihres Erlernens die
Bemühungen um das Buchstabieren. Das ist für uns ganz eigenartig und fernliegend,
weil für uns Schrift eben aus den abtrennbaren Buchstaben besteht – im
Deutschen 26 (Grund-)Buchstaben an der Zahl. Für solche Sprachteilhaber aber, die
ganz im Sprachkontinuum stehen, muss eine Abtrennung und Auflösung dieses Kontinuums
erst gelernt werden. Denn gesagt ist gesagt und dann verklungen. Dass das
für die Aufzeichnung getrennt werden soll, um daraus die Einzellaute zu erhalten,
wird für lange Zeit ungewohnt bleiben. Deshalb ist der erste Lernakt in der Schule:
die Schüler müssen lernen, ihr Lautkontinuum zu zerteilen, um die ihnen ungewohnten
Einzellaute zu erhalten. Ungewohnt deshalb, weil sie in ihnen und mit ihnen
nicht sprechen, sondern weil sie sie schreiben und lesen sollen.
Welche Auswirkungen das alsbald hat, wird an einem Phänomen ersichtlich,
das so lächerlich wie folgenschwer ist, der Orthographie. Ein Laut ist graphisch fast
nicht wiedergebbar, sondern graphisch nur anzeigbar. Ein schriftsprachliches Zeichen
zeigt also einen Laut nur an, aber es muss das so machen, dass möglichst alle Leser
den gleichen oder zumindest einen ähnlichen angezeigt bekommen (Wieder-Erken
( Ulrich Knoop
nung). Damit ist Schreibung nie individuell – das ist sie nur in Privatsprachen –,
sondern immer generell bzw. generalisierend. Strukturell ist es so, dass das erste
niedergeschriebene Wort einer Sprache schon zwei Abstraktionsgänge hinter sich
hat: erstens seine Herauslösung aus dem Sprach-(oder Sprech-) Kontinuum, nämlich
als einzelnes Wort, und zweitens die Zeichenwahl für seine Darstellung. Diese muss
hinsichtlich der Vor- und Nachsilbe und der Stammwortschreibung homogen zu anderen
Vor- und Nachsilben in anderen Wörtern, und homogen hinsichtlich anderer
Stammwortrealisationen aussehen. Damit ist die Verschriftlichung des ersten Wortes
einer Sprache strukturell der Beginn der Orthographie einer Sprache, nämlich
die generalisierende, graphemisierende Darstellung.
Das Produkt der Zerschlagung des ganz natürlichen Lautkontinuums ist der Laut
und man kann nun sagen, dass die Laut-Gewinnung (aus der Zerschlagung des Lautkontinuums)
primär gegenüber der Schrift ist, oder sekundär, weil sie ihn abbildet
und er dann nur noch dazu dient, die Schriftzeichen zu setzen, die sein Wiedererkennen
und seine Re-Artikulation (Lesen) ermöglichen. Der Laut ist also geradewegs
ein Produkt oder eine Voraussetzung der Verschriftlichung.
Aber der Vorgang der Zerschlagung des Lautkontinuums zeigt noch etwas anderes
und das betrifft das Selbstverständliche in dem Ausdruck gesprochene Sprache:
Mit der Zerschlagung des Lautkontinuums und dem Erkennen von Lauten tritt der
sprechende Mensch aus dem Lautkontinuum heraus und steht einem Phänomen gegenüber,
das ihm so noch nicht vor Ohr und Auge getreten ist, da er sich bislang in
ihm aufgehalten hat: der Sprache. Das Buchstabieren, das Lautieren erbringt nicht
nur den Laut, sondern auch das Phänomen, das all die Laute verkörpert und trägt
und zusammengenommen ihre Sinnhaftigkeit anzeigt. ‚Gesprochene Sprache‘ ist
also nicht nur hinsichtlich des Lautierens (gesprochen), sondern vor allem in Hinsicht
auf die Sprache ein Produkt der Verschriftlichung, also nicht das gegenüber
der geschriebenen Sprache primäre Objekt, sondern gerade wegen der nunmehrigen
Objekthaftigkeit von Sprache von der verschrifteten Sprache abhängig, also sekundär:
Gesprochene Sprache ist in diesem Sinne, also dem Sinn wie ihn die Sprachwissenschaft
seit Hermann Paul versteht, das Produkt der geschriebenen Sprache.
Das wird z. B. auch daraus ersichtlich, dass die Wissenschaft(en), die die Sprachwissenschaft
eigens für die Erfassung des Lautes begründet hat, die Phonetik für den
tatsächlichen Laut überhaupt und die Phonologie für den grundsätzlichen, allgemein
gemeinten Laut längere Zeit als Wissenschaft von den ursprünglichen Lauten
galt, seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts sich aber die Einsicht durchsetzt
– sie wurde wohl erstmals von Helmut Lüdtke markiert (Lüdtke 1969: der Phonembegriff
leitet sich aus dem Buchstabenbegriff her) –, dass beide Wissenschaften
wohl von der Verschriftlichung abhängig sind. Hartmut Günther spricht deshalb
zum Ende des Jahrhunderts vom „überkommenen Glauben an die uneingeschränkte
Priorität der Lautsprache“ (Günther 1998, 1).
Es gibt eine Überlegung in der neueren Sprachwissenschaft, die von dem Begriff
gesprochene Sprache absieht, für bestimmte Bereiche des Sprechens eine konzeptiMündlichkeit
und Schriftlichkeit (
onelle Mündlichkeit am Werke sieht und auch davon absieht, diese als ‚natürlich,
ursprünglich oder genuin‘ anzusehen. Peter Koch und Wulf Oesterreicher benennen
mit Mündlichkeit aber die phonische Realisation und kommen erläuternd auf „die
vier großen medial-konzeptionellen Bereiche A (gesprochen/phonisch), B (phonisch/
geschrieben), C (graphisch/gesprochen), D (graphisch/geschrieben)“
(Koch/ Oesterreicher 2008, 201). Mündlichkeit wird hier begrifflich wie ›gesprochen‹
gebraucht, ist also kein eigener (sprachlicher) Bereich, wofür ja schon konzeptionell
spricht: Es geht um konzipierte Texte, also abgetrennte, eigenständige sprachliche
Formationen, die zwar phonisch (also lautlich) realisiert werden, die aber letztlich
schriftsprachlich konzipiert worden sind, also keineswegs autochthon gesprochensprachlich
entwickelt wurden und sprachwissenschaftlich bedacht worden sind.
Mehr noch als gesprochen ist Sprache Ausweis der Abhängigkeit von einer geschriebenen
Sprache, denn gesprochen könnte auch das Leben in der Präsenz-Kultur,
also das Leben in der Sprache meinen. Mit Sprache jedoch ist ihre Verobjektivierung
ganz selbstverständlich angesprochen, sodass gesprochene Sprache nicht
nur verlautete Sprache meint, sondern vor allem deren Vergegenständlichung, die
Sprache überhaupt erst als Objekt fassbar macht.
Es bleibt dabei, der Laut kann von der Sprachwissenschaft nur als aufgelöster
Teil des Lautkontinuums angesehen werden und das Lautkontinuum selbst findet
keine sprachwissenschaftliche Beachtung.
Mündlichkeit
Muss eine Kultur ihre Entscheidungen, Beschlüsse, Kenntnisse verdauern – ich übernehme
hier den Begriff von Konrad Ehlich, weil er wie kein anderer das Besondere
der Tradierung benennt (Ehlich 1994, 19 u. ö.) – , also festhalten, konservieren, um
sie gegebenenfalls vorhalten zu können? Müssen hierfür Texte gebildet werden, die
dann unabhängig von den Beteiligten und unabhängig von den Geschehnissen
rezipiert werden können? Unsere abendländischen Traditionen bejahen dies, aber
sie stehen allein gegenüber einer großen Menge von Kulturen, die das nicht tun. Es
sind dies viele Kulturen in ganz Amerika und Afrika, und in Teilen Asiens. Viele,
viele Menschen leben und lebten ohne diese Verdauerung. Das erscheint uns nicht
plausibel, aber es gibt ein deutliches Zeugnis für die Ablehnung dieser Art von Verdauerung,
gesprochen gegenüber den schon vorhandenen Möglichkeiten dieser
Verdauerung im (mittel)europäischen Mittelalter. Der Dichter Wolfram von Eschenbach
lässt von einem Ich in seinem Werk Parzival sagen: „ine kan decheinen buochstap“
(Pz. 115, 27). Denken wir an das Buchstabieren und Lautieren, dann sagt dieses
Ich mitnichten, dass es von Literatur nichts wisse und ungebildet sei. Es sagt
lediglich, dass es das Auflösen des Lautkontinuums nicht kann, es also eine bestimmte
Art der Verdauerung nicht kann. Für uns von Interesse ist diese Aussage
( Ulrich Knoop
deshalb, weil sie angesichts der Möglichkeiten, vor allem der Folgen von Lautieren,
von einem ausgebracht wird, der sehr wohl weiß, wovon er spricht: er sieht es und
schließt sich trotzdem oder gerade deshalb nicht an. Dieses Ich kann offenbar wählen
und es wählt die Möglichkeit eines Umgangs mit der Sprache, die bei vielen anderen
Kulturen vorherrschend ist, einerseits. Andererseits benennt es das entscheidende
Kriterium für das Verdauern: die Zerschlagung des Lautkontinuums. Diese
Zerschlagung basiert darauf, aus einem Kontinuum einzelne Teile, Wörter genannt,
herauszufinden und diese Wörter wiederum in ihre Einzellaute zu zerlegen, die
dann mit Buchstaben graphisch abgebildet werden. Vor allem anderen wird hier
eine Position sichtbar: das Gesprochene wird objektiviert, es kann nun als textlicher
Gegenstand vor uns gebracht werden und wir stehen diesem Sprachlichen gegenüber.
Sprache ist zum Mittel geworden und der Mensch zum Gebraucher eines Mittels.
Demgegenüber gibt es eine andere Möglichkeit: der Mensch lebt im Lautkontinuum
und ist nicht der Sprache gegenüber, sondern in ihr. Er lebt mit ihr und in ihr,
er kann so sprechen, ‚wie ihm der Schnabel gewachsen‘ ist, denn fast alles wird
vergessen und von vielem wird nur der Sinn erinnert. Das ist das, was die Verdauerung
hervorruft und was von ihr aus dann über das lautkontinuierliche Leben gesagt
wird: es ist flüchtig (und diese Flüchtigkeit soll gebannt werden). Die vielen
Kulturen ohne Textverdauerung wollen aber gerade das Verschwinden von Besprechungen,
wollen diese lieber nicht festhalten, wollen vor allem nicht mit deren
Konsequenzen zu tun haben: mit Vergangenheit und Zukunft. Sprache muss in solchen
Kulturen nicht weiter beachtet werden, man kann sie, erlernt in den ersten
Lebensjahren und dann ein Leben lang gültig (wie anders die Verdauerungssprache,
die in einem zweiten Ausbildungsgang gelernt werden muss). Sprache und
Sprechen ist so für alle möglich und vorhanden wie ein Fluss, in dem jeder schwimmen
kann, von ihm getragen wird und nicht mit Sorgen überfrachtet, er könne nicht
ausreichen oder sei ungenügend bzw. umgekehrt, wir würden nicht genug können
und seien deshalb ungenügend. Natürlich muss sich jeder Gedanken machen, aber
er muss nicht fürchten, ob das Gesagte künftighin stimmt, mit Früherem übereinstimmt
oder dermaleinst eingehalten wird. Die Richtigkeit des Gesagten kann nur
von den Umstehenden überprüft werden, dann verfliegt es und es bleibt eine gewisse
Erinnerung, ein Sinn dessen, was alle Anwesenden zusammen meinen. Die Vereinzelung
im Subjekt, das Alleinsein beim Textbilden und -fomulieren kommt gar
nicht auf.
Das ist das, was die Sprachwissenschaftler gesucht haben, das ist primäre Sprache,
nämlich die, die einfach da ist, in der wir sind, die uns also nicht gegenüber
steht, als Objekt, und die wir als Mittel einsetzen. Wie sehr diese Erstrangigkeit der
Sprache empfunden wurde, vor allem das, worauf Wolfram sich beruft, geht aus
einem Usus hervor, der gerade in (Mittel)Europa erstaunlich ist: Texte (besonders
Verwaltungstexte) haben erst dann Geltung, wenn sie abgekündigt worden sind,
also rücktransfomiert – erinnert sei an Hermann Paul – werden in das Lautkontinuum.
Ihre Schriftform hatte also noch nicht das Siegel der Gültigkeit. Das änderte
Mündlichkeit und Schriftlichkeit (
sich erst zum Ende des 18. Jahrhunderts hin, als Preußen die Schriftform als das Datum
bestimmte, ab wann ein Gesetz Geltung hatte.
Ab dann war sprachliches Handeln endgültig nicht mehr in ein allgemeines Handeln
eingeschlossen, war also nicht mehr die eher unauffällige Begleitung des allgemeinen
Handelns, weil Sprecher und Hörer in gewissem Sinne eins waren, der
Sprecher hörte und der Hörer sprach mit. Mit der Verlautbarung der Sprache war im
gleichzeitigen Hören die Aufnahme des Inhalts schon gegeben, war also nicht ein so
isolierender und isolierter Vorgang wie das Lesen (vgl. hierzu Günther 2009, 120).
Mündlichkeit ist so zu verstehen, dass Sprache Teil der sozialen Gemeinsamkeit
war (oder ist), sodass es gar nicht so sehr auf das Medium der Sprachproduktion
ankommt, das sie von der Schriftlichkeit trennt, als vielmehr auf einen Unterschied
in den Kulturen: hier der Kultur des Lebens in der Sprache und ihrem Lautkontinuum,
dort die Entgegensetzung von Mensch und (sprachlichem) Text als Medium der
Verdauerung und das Anwachsen der Befassung mit diesen verdauerten Texten –
ein nicht einfacher Weg, gepflastert mit vielen Schwierigkeiten und Mühen (z. B. des
Erlernens der Techniken des Verdauerns).
Schriftlichkeit
Der Erwerb der Schriftsprachlichkeit, das Erlernen der Schriftsprache ist mit vielen
und langwährenden Mühen verbunden und dieses Erlernen erfolgt auch unter dem
Eindruck, dass man Sprechen eigentlich schon kann. Warum nehmen die Menschen
in (Mittel-) Europa diese Mühe auf sich, vor allem, warum werden möglichst viele
dazu gebracht, diese Mühen auf sich zu nehmen, um dann trotzdem immer wieder
gesagt zu bekommen, ihre Schrift- und Schreibkenntnisse genügten (noch) nicht? Es
mag für uns heute selbstverständlich sein, doch sollten wir den erheblichen Aufwand
nicht nur nicht unterschätzen, sondern nach den Gründen fragen, warum
eine so gängige wie ausreichende Mündlichkeit nicht nur aufgehoben, sondern als
unzureichend angesehen wurde. Denn genau damit hängt es zusammen: mit dem
Sehen. War zuvor das Hören der dominierende Sinn, wurde im Laufe der Frühen Neuzeit
der Seh-Sinn der wichtigste, ja der fast ausschließlich gültige Sinn.
Warum kommt es zu diesem Wechsel? Weil die Gültigkeit des Erkennens erstens
geprüft wird – und das Gehörte als zu ungenau verworfen wird – und zweitens der
Seh-Sinn schließlich als der edelste angesehen wird, so dass letztlich auch Sprache
sichtbar werden muss. Kant fasst das so zusammen: weil durch den Seh-Sinn die
Erkenntnis eines Gegenstandes als eines Dinges außer uns am ehesten zum Subjekt
kommt (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht von 1798; AA 7, 226). Hegel stimmt
dem zu, weil der Seh-Sinn der edelste Sinn sei, denn er sei am unabhängigsten von
der Körperlichkeit (System der Philosophie; in: Jubiläumsausgabe, hg. v. H. Glock!
( Ulrich Knoop
ner, 1929, 624). Und daraus ist schon zu ersehen, dass Körper und Geist, Materie
und Bewusstsein als (nunmehr) getrennt angesehen werden.
Damit ist das gehörte Wort weniger verlässlich als das gesehene, denn nur was
sichtbar ist, dient dieser edelsten Art der Wahrnehmung. Das bedeutet: wer Gültigkeit
des Argumentierens beansprucht, muss das Argument sichtbar machen, anschaubar
nach außen. Diese Bewegung vom Ohr zum Auge bahnte sich schon lange
an, ein Meilenstein war sicherlich das Hauptwerk von Isaac Newton, Opticks, von
1704, und seine lebhafte Rezeption. Außerdem ging Kant von der Einrichtung der
Subjekt-Objekt-Grundlage des Erkennens durch René Descartes aus, die überhaupt
das Erkennen als wichtigstes Moment des menschlichen Daseins in den Mittelpunkt
rückte. Der Mensch wurde zum Subjekt (im Erkenntnisvorgang), ein Umbruch, wie
er nicht gravierend genug vorgestellt werden kann. Hans-Ulrich Gumbrecht sieht das
so, dass der Mensch nun als Erkennender zu einem rein geistigen, körperlosen Wesen
wird und eben nicht mehr Bestandteil der ihn umgebenden Welt ist (wie er das
in der Kultur der Präsenz [in Europa] war). Ab dann stützt sich die abendländische
Philosophie auf das „Subjekt-Objekt-Paradigma“ als begriffene epistemologische
Struktur (Gumbrecht 2004, 41 f.).
Diese Neubestimmung des Menschen als Erkennendem sucht sich die angemessenen
Ausdrucksmöglichkeiten, um diese neue Sicht auf die Welt zum richtigen Ausdruck
bringen zu können. Sie findet diese Ausdrucksmöglichkeiten in einer Form
der Sprache, die schon lange bekannt ist, aber ein weniger beachtetes Dasein fristete.
Diese Schriftlichkeit ist deshalb über lange Zeit hinweg weniger beachtet, weil sie
mit vielen ihrer Eigenschaften konträr zur vorherrschenden Mündlichkeit steht. Nun
aber wird sie parallel zu diesem Umbruch zur letztlich dominierenden Ausdrucksform
entwickelt.
Diese (Buchstaben-)Schriftlichkeit hat zwar Züge einer Bild-Schriftlichkeit – z. B.
das Wort-Bild. Diese treten aber gegenüber ihrem zweiten Verfahren, solche Kontinua
wie Bild, vor allem aber Lautkontinua, aufzulösen, zurück und lassen ihre Vorzüge
zur Geltung kommen. Der erste und wichtigste ist die Trennung von Sprachproduzent
und Sprachrezipient, also Sprecher und Hörer (was bedeutet, dass mit
dieser Trennung in S und H schon die Gesetzmäßigkeit der Schriftlichkeit greift, also
nicht erst mit der Graphisierung der Zeichen). Damit entspricht sie der Trennung
von Subjekt und Objekt im Erkenntnisvorgang und kann gleichzeitig die Sprache
selbst erstmals als Objekt etablieren. Der zweite Vorteil der Buchstaben-Schriftlichkeit
ist ihre Voraussetzung zur Re-Artikulation: ein Text in Buchstabenschrift kann
in der gleichen Weise, also so allgemein verbindlich, vorgelesen, also intoniert werden,
wie die geschriebene Sprache das schon für das Augenlesen bereithält. Damit
ist sie der Hieroglyphenschrift mit ihren Wort-Bildern überlegen. Diese Überlegenheit
gewinnt sie aus der Segmentierung des Lautkontinuums in Einzellaute, die
dann zwar Wort-Bilder zusammenstellt, aber eben nicht Sachbilder wie in der Hieroglyphenschrift.
Sie stellt mit den Buchstaben ein einfaches unmittelbares Zeichen
vor, „das als ein Sein für sich nichts zu denken gibt, nur die Bestimmung hat, die
Mündlichkeit und Schriftlichkeit (
einfache Vorstellung als solche zu bedeuten und sinnlich vorzustellen“ (Hegel, Enzyklopädie
der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, § 459; Ausgabe 1970,
275). Hegel weist dann noch darauf hin, dass die Buchstabenschrift den Boden der
Innerlichkeit im Subjekte zu begründen und rein zu machen ein Wesentliches tut
(ebd., 276), also das, was im modernen Erkenntnisvorgang so außerordentlich wichtig
ist: die Stärkung und Herausstellung des Individuums. Hegel hebt darauf ab,
dass die Hieroglyphenschrift sinnliche und geistige Gegenstände mit gleichbleibenden
Zeichen versieht, was im ersteren Falle angehen mag, im Falle des Geistigen
aber die fortschreitende logische Entwicklung über ihre inneren Verhältnisse nicht
abzubilden vermag bzw. bei älteren Abbildungen stehen bleibt (ebd., 273). Und so
wird es nicht mehr lange dauern, bis die heute noch gebrauchten Bild-Schriften von
Buchstabenschriften abgelöst worden sind.
Der Mensch ist nicht mehr in der Sprache, er kann nun die Sprache sich gegenüberstellen
und zwar zunächst im graphischen Zeichen (und seine textlichen Ansammlungen),
dann aber als abstrakteres Gebilde, das als Sprache beobachtet, analysiert,
kritisiert, gepflegt und erforscht werden kann. Sprache wird hiermit zum
Vermittlungsinstrument. Sie wird gewählt, dann präpariert zum Ausdruck von etwas,
das, vorformuliert, nun mit ihr und durch sie zum Ausdruck gebracht wird.
Das war für Präsenz-Kulturen nicht nur nicht möglich, weil der Mensch in der
Sprache war und die Sprache mit ihm, sondern auch sinnlos, weil Sprache gar nicht
als solche greifbar wurde. Das kommt in dem Topos des blinden Dichters am besten
zum Ausdruck: Homer, Milton oder Ossian wurden als nicht-sehende Dichter aufgefasst,
weil sie ihre Dichtungen nur hörten, aber eben nicht die (verwirrende) Welt
sahen. Vor allem aber kommt das in dem Wandel vom aristotelischen Zeichenverständnis
zum modernen zum Ausdruck: das Zeichen wird nun zum Signifikanten
für ein Signifikat, das allerdings kaum je in Erscheinung treten kann, wohl aber gedacht
wird.
Nach dem Umbruch in eine Erkenntniswelt kommt es darauf an, möglichst viel
von der Welt zu sehen und dazu eignen sich die über die Schriftsprache vermittelten
Kenntnisse am ehesten. Möglichst viel bedeutet möglichst viel zur Kenntnis zu nehmen
und zu bringen, also möglichst viel zu lesen und zu schreiben. Dies einmal dieser
Kenntnisse wegen und zum anderen zur Stärkung des Subjekts als Individuum.
Die Trennung der Sprache in den Produktions- und den Rezeptionsteil ermöglicht
die Vorlage der Sprache zum Lesen. Lesen erfolgt über den kulturell gestärkten und
gerechtfertigten Seh-Sinn, so dass nun das aufkommende stumme Augenlesen eine
erheblich vermehrte und schnellere Rezeption von Texten ermöglicht, von der Entwicklung
der Schrift aber fordert, dass sie diesem Augenlesen möglichst leicht zu
erlesende Sprachstrukturen bereit stellt: die Wort-Bilder müssen schnell und glatt
erkennbar sein. Damit kommt die Richtigschreibung als schnell erkennbare und vergleichbare
graphische Darstellung auf und wird als Orthographie zum Dauerthema
der Gesellschaft. Klar, das Augenlesen will möglichst schnell und ungehemmt den
Text aufnehmen, also muss der Sprachproduzent eine möglichst homogene Schrei""
( Ulrich Knoop
bung hervorbringen, aber andererseits lassen sich an die Orthographie andere Aufgaben
anheften, nämlich einmal die Überprüfbarkeit ihrer richtigen Einhaltung im
Schulbetrieb, und zum anderen die nationale Identität in ihrem wiedererkennbaren
Wort-Bild. Ist das gestört, wird die Schulleistung als misslungen angesehen bzw. die
nationale Identifizierung als nicht erfüllt. Tatsächlich muss Orthographie aber in ihrer
genuinen Aufgabe gesehen werden, nämlich ein homogenes und erkennungslogisch
funktionierendes graphisches Bild der Sprache abzugeben, das den Lesefluss
gängig hält. Die Sprachentwicklung über die Jahrhunderte hinweg mit ihrer Morphem-
Stabilität (oder -Konstanz) und ihrem Grundprinzip des Variantenabbaus trägt
dem Rechnung. Entscheidend ist nicht die Richtigkeit der Orthographie – nach welchen
Prinzipien auch immer –, sondern die Ermöglichung des guten Leseflusses
durch sie.
Wenn Schriftlichkeit als komplementär zum Erkenntnisvorgang gewählt wird,
muss sie für möglichst alle Menschen erlernbar, vor allem aber rezipierbar sein. Das
betrifft etwas, was in der ganzen Menschheitsgeschichte radikal neu ist und so noch
mal den Umbruch verdeutlicht: Möglichst jeder Mensch muss sich einem zweiten
Spracherlernungsgang unterziehen. Der Mensch muss lesen und schreiben lernen,
obwohl er doch schon sprechen kann, also das Sprechen beherrscht. Er muss auch
die bis dahin (bis ins 18. Jahrhundert) herrschende Multimedialität aufgeben, also
die Inhaltsvermittlung in Geselligkeit und vermittels Gesang, Ton, Bild, Gestik usw.
Wie wichtig dieser Abstraktionsvorgang ist und wie ernst das auch gesellschaftlich
genommen wird, geht daraus hervor, dass ein Teil des Bruttosozialprodukts für
die Infrastruktur dieses Erlernens bereitgestellt wird. Sichtbar ist, dass vom 17. und
18. Jahrhundert an (Schul-)Raum und Personal bereitgestellt wird, um dieses Lernen
zu ermöglichen. Das wird zunächst angeboten, dann zur Pflicht und schließlich
zum Schulzwang (erfolgreich um 1900). Gerade letzteres erfordert aber, dass der
Staat für Gebäude, Personal, dessen Ausbildung und verwaltungstechnische Organisation
aufkommt (Ministerien für Unterricht und Kultus, Lehrerseminare, Lehrergehälter).
Man muss nicht meinen, dass das wegen einer Bildung veranstaltet wird.
Es ist so, dass der Staat lesekundige Untertanen braucht, damit seine (schriftsprachlich
organisierte) Infrastruktur funktioniert (gleiches gilt für die aufkommende Industrie).
Aber nicht nur das Augenlesen und die schnelle Rezeption lassen die Leserschaft
anwachsen und damit die Abnehmer von Texten: Texte werden zum Wirtschaftsprodukt
mit einer exponential wachsenden Menge an Schriftprodukten (nicht
nur Bücher und Zeitungen, sondern auch Verwaltungsschrifttum). Umgekehrt wird
der Schreibgebrauch dadurch vereinfacht, dass die natürliche (Gänse-) Feder durch
die leichter zu handhabende Stahlfeder ersetzt wird. Die Schrifterlernung ist ein
gesamtgesellschaftliches Anliegen und alle Eltern sind besorgt, dass ihr Kind Lesen
und Schreiben lernt (ausführlich hierzu Knoop 1994).
Die erlernte Schriftlichkeit muss nach zwei Seiten hin gut gebräuchlich sein:
einmal muss sie gut zu formulieren sein (Produktion) und zum anderen muss sie gut
verständlich sein (Rezeption), zumindest aber so, dass sie eine Sache clare et disMündlichkeit
und Schriftlichkeit ( "
tincte zum dem Ausdruck bringen kann, von welchem Ausdruck dann zu sagen ist,
dass man es verstehen muss (!), eben weil es klar und deutlich formuliert worden
ist. Damit gewinnt eine Form der Sprache die Überhand bzw. wird zur gültigen Darstellungsform:
die Prosa. Schon in den Jahrhunderten vor dem 19. ist ihr Anwachsen
zu beobachten, im 18. gewinnt sie die Oberhand. Verwaltungsschriftlichkeit, Abhandlungen,
philosophische Schriften, (Unterhaltungs-) Literatur folgen den vermeintlich
einfacheren Gesetzen der Prosa und am Ausgang des 18. bemerkt Lichtenberg,
dass nun die Prosa reiten solle (und die Poesie absteigen; Sudelbücher J
22), so wie Jacob Grimm am Beginn des 19. dann feststellen kann: „Die Poesie vergeht
und die Prosa (nicht die gemeine, sondern die geistige) wird uns angemessen“
(Grimm 1819, XXVII). Wie sehr die Form der Prosa bestimmend wird, kann daran abgelesen
werden, dass Schellings Versuch einer philosophischen Darstellung in Gesprächsform
(Clara) kein Erfolg beschieden ist und dann auch keine Nachahmer
mehr findet. Wie viele andere Bereiche der Erkenntnis und Unterhaltung erfolgt Philosophie
nur noch in Prosa, bis im 20. Jahrhundert nichts anderes mehr denkbar ist.
Denn diese Form der sprachlichen Darstellung garantiert Verständlichkeit. Dafür
spricht auch das Aufkommen einer (prosaischen) Literaturgattung zur höchsten,
nämlich mit den dann berühmtesten Autoren: dem Roman und seinem Siegeszug im
19. und 20. Jahrhundert.
Darüber soll aber nicht vergessen werden, dass in und mit der Prosa kein Ende,
kein Abschluss, gefunden werden kann, genau wie ihre Parallelität, die alles erfassende
Erkenntnisform (Subjekt – Objekt). Denn einmal formuliert, ruft sie unzählige
neue, ergänzende, kritische Formulierungen hervor. Prosa ist nämlich nie abgeschlossen.
Früher wurde dies als Mangel empfunden und mit Sonderzeichen (Strich,
Girlande) oder eben dem Wortzeichen Ende angezeigt. Und einer, der es wissen muss,
Franz Kafka, formuliert 100 Jahre nach Jacob Grimm die Angst, die er vor der persönlichen
Verantwortung für das Geschriebene hat (Tagebücher, 12. Januar 1911).
Das gilt auch für das Plädoyer von Hans-Ulrich Gumbrecht für die Präsenz, die er
eben auch heutzutage vorfinden will – und dazu seine Prosa ausführt, die natürlich
nicht unbeantwortet bleibt, also immer weitertreibt und nicht abschließbar ist. Dem
Fluch der unerschöpflichen (schlechten – Hegel) Unendlichkeit, die auch unsere Erkenntnisvorgänge
steuert, kann man eben nicht mit weiterer Prosa antworten, sondern
damit, was Ludwig Wittgenstein rät: schweigen.
Der Wandel des sprachlichen Geschehens zur Prosa bahnt sich in der Entwicklung
schon länger an. Seit Luther und seiner Nebensatzkonjunktion mit so, seit dem
16. Jahrhundert also, wird die Differenzierung der Syntax des Deutschen u. a. im
Ausbau der zu unterscheidenden Nebensatzkonstruktionen weiter dahin entwickelt,
dass wir nun die Modalitäten des Grundes, der anderen Zeit, der Einschränkung, der
Folge, der Absicht oder der Relation usw. nebensätzlich gesondert zum Ausdruck
bringen können, sodass mit vielen weiteren sprachlichen Veränderungen auch komplizierte
Sachverhalte angemessen zum Ausdruck gebracht werden können. Prosa
ist den gedanklichen Anforderungen in fast allen Fällen gewachsen.
" ( Ulrich Knoop
Damit ist die Schriftlichkeit so weit ausgebaut, dass sie Sprachtexte in anderen
Räumen und auch für andere Zeiten zum Verstehen bereithalten kann (Dislozierung
und – hier fehlt in der Schriftlichkeitsforschung der Ausdruck – Distemperierung als
Ausdruck für Gleichzeitigkeit, Nachzeitigkeit, also Zeitungleichheit). Sie erfüllt die
Voraussetzungen, die mit dem Umbruch zu Beginn der Neuzeit ihre Fahrt aufnahm:
Sprache als Objekt, Sprache trennbar in Produkt und Rezeption, Sprache verfügbar
ohne Rücksicht auf Raum und Zeit, Sprache ausgebaut für die Darstellung sämtlicher
Sachverhalte, Sprache sichtbar (für das Auge).
Vor 1800 war Multimedialität noch möglich und der Einzelne konnte sich informieren,
vor allem in einer Geselligkeit. Nach 1800 dringt die Schriftlichkeit als
allein bestimmende Sprachform alles andere ausschließend vor und erreicht zu unseren
Zeiten ihre Totalität. Möglicherweise könnte man dabei an eine radikale Durchsetzung
der Norm denken, aber Sprach-Norm ist nur eine Sonderform für die Formierung
der Schriftlichkeit, nämlich die Sprachform, die bei ihrer genauesten Beachtung
Verstehen garantiert. Norm umfasst deshalb nicht alle sprachlichen Erscheinungsformen,
sie schließt viele aus.
Aber die Schriftlichkeit hat längst alle sprachlichen Erscheinungsformen grundiert,
so dass Schriftlichkeit zu recht als Totale angesehen werden kann, denn wir
können ihr nicht entrinnen und die Zeiten einer reinen Mündlichkeit und damit einer
Präsenzkultur sind unwiderruflich dahin. Wie unwiderruflich, wird auch daraus ersichtlich,
dass diese Schriftlichkeit eine Vorschrift über die Reartikulation erhält,
die Hochlautung, die dann komplettiert, was für Sprachwissenschaftler noch offen
war: die Kongruenz von Sprachzeichen und Aussprache, sprich: die standardisierte
Re-Artikulation, sprich: die Hochlautung (zur Hochsprache gehörig, wie die standardisierte
Schriftlichkeit bezeichnet wird). Sie wird zum Ende des 19. Jahrhundert
erstellt: Deutsche Bühnenaussprache 1898 von Theodor Siebs, welche Darstellung
dann von praktikableren Aussprachwörterbüchern abgelöst wurde.
Sprachgeschichte
Fragt man nun, was diese Entgegensetzung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit für
die deutsche Sprache bedeutet, so ergibt sich eine interessante Gemengelage. Über
die deutsche Präsenz-Kultur einer (reinen) Mündlichkeit vermögen wir wenig zu sagen,
weil die hierfür nötigen Daten nicht existieren können: wer in der Sprache ist,
kann nichts über sie sagen, Sprache, Sprechen und Hören ist für ihn einfach da.
Kommt aber die Trennung auf und wird die Sprache in deren Verlauf zum Objekt,
sind schon allein die Entwicklungsstufen sichtbar und die getrennten Verläufe von
Produktion und Rezeption einerseits, sowie andererseits die Optimierung beider,
alles das ist ein Objekt der Erforschung. Denn wir wollen wissen, welche Prinzipien
Mündlichkeit und Schriftlichkeit ( "
hier am Werke waren, um abzusehen, welche es auch künftig sein werden. Das ist
das allgemeine Interesse der Sprachgeschichtsforschung.
Das speziellere gilt dem Verhältnis von geschriebener Sprache und Mündlichkeit
in früherer Zeit. Hierfür gilt, dass Schrift Schrift ist, also als geschriebene Sprache
nur den Gesetzen und Bedingungen folgen kann, die für geschriebene Sprache
überhaupt gelten. Und die sind: Lautbildung für die Wahl der Buchstaben und die
Beachtung ihrer Zusammenstellung für die Re-Artikulation, also das (laute Vor-) Lesen
von geschriebener Sprache. Nur bei letzterem kommt die autochthone Sprache
zur Geltung: die Anordnung, die Wahl der Lautabbildungen muss für die gedachten
Leser erkennbar auf Re-Artikulationen verweisen, weil ansonsten die Rezeption eines
Textes nicht mehr gewährleistet, möglicherweise gar nicht mehr machbar ist. Ein
niedergeschriebener Text wird dann für die Empfänger unbrauchbar.
Bei der Wahl der Lautabbildung spielt für das Deutsche vor allem im Anfang seiner
Verschriftlichung die lateinische Lautierung eine große Rolle. Aber hier kommt
es zu Defiziten und Überschüssen, weil das Latein natürlich nicht in allen Bereichen
kompatibel zum Deutsch des Mittelalters sein kann. Der Brief Otfrids legt hiervon
Zeugnis ab, nämlich einerseits davon, dass viele Lautungen problemlos kompatibel
sind, andererseits aber, dass einige dies nicht sind und deshalb auffällig.
Damit ist ausgeschlossen, dass die autochthone Sprache Einfluss nimmt auf die
Lautung der geschriebenen Sprache. M. a. W., die Sprechsprache kann keinen Einfluss
auf die geschriebene Sprache nehmen, da sie nicht in Laute segmentiert worden
ist. Ausgeschlossen ist auch, dass die autochthonen Sprecher ein Wissen von
Lautverschiebungen haben können und von anderen Dialekten. Sie wissen allenfalls,
dass Leute anderswo anders sprechen. Damit ist die Dialekteinteilung aufgrund
von Lautverschiebungsmerkmalen eine sehr viel spätere, und damit für die Zeitgenossen
ungewusste, Maßnahme unter sehr abstrakten Vorstellungen.
Das gilt allgemein. Spezieller sind die Überlegungen zum Althochdeutschen.
Zunächst scheint die geschriebene Sprache die lateinische zu sein, so dass zwar gesagt
wird, die deutschsprachige Überlieferung aus dieser Sprachepoche sei geschriebensprachlich,
also in der geschriebenen Volkssprache, die deshalb, weil es die Volkssprache
ist und das Latein den Bereich des Geschriebenen abdeckt, gleich einer gesprochenen
Volkssprache sein soll. Es gäbe eine Übereinstimmung von Schreibsprache
und Basismundart. Johannes Venema, der das für den Kölner Raum erforscht,
kann das begründet ablehnen, Schreibsprache hat immer die Tendenz überregional
zu sein (Venema 1997, 408 ff.).
Dann ist das erste richtig, es gibt eine geschriebene Volkssprache, aber das zweite
ist falsch: eine geschriebene Volkssprache kann niemals Abbild einer gesprochenen
sein. Denn für das Schreiben ist es nötig, eine Lautierung vorzunehmen, d. h. aus
dem Sprachkontinuum der gesprochenen Volkssprache Wörter zu segmentieren
und dann eben auch Einzellaute, die schließlich von Buchstaben repräsentiert werden.
Ein solcher Vorgang kann nur von schriftkundigen Personen geleistet werden,
Schreibern also, nicht von autochthonen Volkssprachesprechern und schon gar nicht
" ( Ulrich Knoop
von Personen, die Schreiben, Schrift und geschriebene Sprache verachten (wie das
vom damaligen Adel bekannt ist). Deshalb ist die soziale Kennzeichnung der geschriebenen
Volkssprache als oberschichtlich (Venema 1997, 419) nicht zutreffend,
weil die Identität von Schreiber = Oberschicht nicht gegeben ist, denn die Oberschicht
verachtet das Schreiben.
Selbst wenn ein solcher Schreiber den autochthonen Volkssprachesprecher abhören
würde, müsste er die Lautierung doch so ausrichten, dass sie allgemeineren
Verfahrensweisen entspricht, denn seine Schrift soll ja allgemeinverbindlicher und
allgemeinverständlicher ausfallen, damit sie auch von anderen des Sprachgebiets
und möglichst darüber hinaus gelesen und verstanden werden kann: „Was Schriftlichkeit
ausmacht, weiß der Verschrifter aus einer anderen Sprache, die eben dadurch,
dass sie Schrift besitzt, schon einen anderen Status hat ... Denn die Sprache
verändert sich ingesamt, wenn sie geschrieben wird.“ (Günther 1985, 51). Das wäre
nicht der Fall, wenn sie die engbegrenzte Idiomatik des Volkssprachsprechers abbilden
würde, dann aber wäre auch der Sinn der Verschriftung nicht gegeben.
Damit ist die Verfahrensweise, die die gesamte Literatur zum Althochdeutschen
durchzieht und die davon ausgeht, dass althochdeutsche Sprachdenkmäler die gesprochene
Volkssprache wiedergeben würden und man dann schon von Phonemen
des Althochdeutschen spricht, auf Sand gebaut: die Lautierung und die Laute der althochdeutschen
geschriebenen Volkssprache sind Ergebnis eines professionellen
Verfahrens, das Laute aus dem Lautkontinuum segmentiert und Buchstaben zuordnet,
woraufhin sie für das Schreiben kundig zusammengesetzt werden. Und das ist
ein Vorgang, der mit den Erscheinungen des Sprechens nichts mehr zu tun hat, so
dass die geschriebene Volkssprache die gesprochene Volkssprache nicht nur nicht
abbilden kann, sondern einen ganz eigenen Weg der Sprachdarstellung einschlägt.
Geschriebenes gleicht sich auch nicht unter Textsortengleichheit an: Textsortengleichheit
ist kein Ausweis für eine Standardisierung mit gewissen Varianten. Jeder
Text ist ein Produkt in der geschriebenen Sprache der Region und sein Korrektiv
ist nicht die möglichst weiträumige Gültigkeit, sondern die Re-Artikulation in der
Region. Eigenartigerweise bekommt so die Maßnahme zur Feststellung der mittelhochdeutschen
Literatursprache und die Konsequenz ihrer Standardisierung durch
Karl Lachmann (Normalmittelhochdeutsch) und seiner Nachfolger Recht: sie vollendet
nur, was damals gemeint gewesen ist und woran sich auch Literaten aus anderen
Sprachregionen gehalten haben. Es gibt also im Hohen Mittelalter eine Standardisierung
der Sprache auf Basis der süddeutschen Regionalsprache. Aber, und
damit entpuppt sich die Standardisierung der mittelhochdeutschen Dichtersprache
als Wunschgebilde des 19. und 20. Jahrhunderts, das Mittelhochdeutsche findet sich
in einem sehr viel größeren Korpus von Texten, die weit über das Dichterische hinausreichen
und eigentlich die meisten Gebiete menschlichen Tuns wiedergeben,
nämlich Texte theologisch-religiöser Themen, der Geschichte des Gesetzeswesen bis
hin zu Urkunden, der Lehrdichtung, der wirtschaftlichen Belange. Die Darstellung
des Mittelhochdeutschen ist dem noch längst nicht gerecht geworden, weiß aber
Mündlichkeit und Schriftlichkeit ( "
darum (s. Herbers 2002) und wird wohl in den nächsten Jahren zeigen, dass die
mittelalterliche Schriftlichkeit schon um 1250 eine beträchtliche Entwicklung genommen
hatte. Diese wird in den weiteren Jahrhunderten dem Gestus der Neuzeit
entsprechend noch weiter und differenzierter, sodass sich regionale Schreibsprachen
erkennen lassen, deren Schreiber sich bemühen zu standardisieren. Das will
aber erst zum Ende des 18. Jahrhunderts gelingen, was dann mit großer Macht im
19. und 20. Jahrhundert für die Schreibsprache mit einer vollständigen Standardisierung
vollendet wird.
Für die Sprachgeschichtsschreibung ist also noch einiges zu tun: die Mündlichkeit
ist für ihre Entwicklung im Deutschen zu beschreiben (was ist und wie äußert
sich Präsenz-Sprache), dann die Entwicklung der Schriftlichkeit von den Schreibern
(althochdeutsch) über ihre Funktionalisierung (= Erfassung möglichst vieler Bevölkerungsschichten)
bis hin zur Totalisierung in der Moderne.
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" ( Ulrich Knoop
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